BVerwG 1. Senat, Urteil vom 28.03.2019, 1 C 9/18

Das Urteil unter dem Aktenzeichen 1 C 9/18 (BVerwG)

vom 28. März 2019 (Donnerstag)


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Aufenthaltsrecht des Ehegatten eines Unionsbürgers trotz Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft

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Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung des Beklagten, dass er sein Recht auf Freizügigkeit in der Bundesrepublik Deutschland verloren hat.

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Der Kläger, ein 1981 geborener nigerianischer Staatsangehöriger, heiratete im April 2008 eine in Griechenland lebende bulgarische Staatsangehörige. Ende 2012 ließ er sich mit seiner Ehefrau im Bundesgebiet nieder und erhielt eine bis Januar 2018 befristete Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern. Anfang 2014 trennten sich die Eheleute. Im März 2014 verzog die Ehefrau nach Bulgarien. Seit August 2015 lebt sie - weiterhin vom Kläger getrennt - wieder im Bundesgebiet. Im Juni 2016 wurde die Ehe in Nigeria geschieden; der Scheidungsantrag datiert vom Januar 2016.

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Mit Bescheid vom 22. Januar 2015 stellte die Ausländerbehörde des Beklagten fest, dass der Kläger sein Freizügigkeitsrecht verloren (Ziffer 1) und kein Daueraufenthaltsrecht erworben hat (Ziffer 2). Zugleich drohte sie dem Kläger die Abschiebung an (Ziffer 3). Die Verlustfeststellung wurde damit begründet, dass der Kläger nicht mehr freizügigkeitsberechtigt sei, da seine Ehefrau Deutschland im März 2014 verlassen habe. Gegen die Verlustfeststellung und die Abschiebungsandrohung ist Klage erhoben worden. Mit Urteil vom 4. Februar 2016 hat das Verwaltungsgericht Berlin die Abschiebungsandrohung aufgehoben und die Klage im Übrigen abgewiesen.

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Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat mit Urteil vom 13. September 2017 die gegen die Klageabweisung gerichtete Berufung des Klägers zurückgewiesen. Die Verlustfeststellung finde ihre Rechtsgrundlage in § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU. Nach der zwischenzeitlichen Scheidung sei der Kläger nicht mehr Familienangehöriger einer Unionsbürgerin. Er habe auch kein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU erworben. Hierfür müsse bis zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungsverfahrens ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht bestanden haben. Das Aufenthaltsrecht des Klägers sei aber schon mit dem Wegzug seiner Ehefrau erloschen und mit ihrer erneuten Niederlassung nicht wieder aufgelebt. Dabei könne offenbleiben, ob die Ehefrau nach der Wiedereinreise weiterhin freizügigkeitsberechtigt gewesen sei. Die nicht mehr gelebte eheliche Lebensgemeinschaft bedürfe keines weiteren Schutzes mehr, wenn der Unionsbürger den Aufnahmemitgliedstaat ohne seinen Ehegatten verlassen habe, da mit dem Wegzug der freizügigkeitsrechtliche Anknüpfungspunkt für ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht entfalle. Daran ändere ein erneuter Zuzug des Unionsbürgers nichts, solange die eheliche Lebensgemeinschaft nicht wieder aufgenommen werde.

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Der Kläger rügt mit der Revision eine Verletzung des § 3 Abs. 2 und 5 FreizügG/EU und des Art. 13 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG. Er habe ein eigenständiges unionsrechtliches Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger bereits mit dem Wegzug seiner Ehefrau, jedenfalls aber mit ihrem erneuten Zuzug und der nachfolgenden Scheidung erworben. Selbst wenn die Auffassung des Berufungsgerichts zum Nichtvorliegen der Voraussetzungen für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht bei Wegzug seiner Ehefrau zutreffen sollte, bestehe die Besonderheit, dass diese bei Scheidung der Ehe wieder im Bundesgebiet gelebt habe. Mit ihrem Zuzug sei sein Freizügigkeitsrecht als Familienangehöriger zumindest neu entstanden. Denn für ein Begleiten oder Nachziehen bedürfe es nach der Rechtsprechung des EuGH keines Zusammenlebens; es genüge, dass sich beide Eheleute im Aufnahmemitgliedstaat aufhielten.

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Der Beklagte verteidigt die angegriffene Entscheidung.

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Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich nicht am Verfahren.

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Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet. Das Berufungsgericht hat bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Verlustfeststellung ein eigenständiges Aufenthaltsrecht des Klägers nach Scheidung von seiner bulgarischen Ehefrau mit einer Begründung verneint, die nicht mit § 3 Abs. 5 Nr. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz EU - FreizügG/EU) i.V.m. Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/630/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158 S. 77) - sog. Unionsbürger-Richtlinie - zu vereinbaren ist. Zwar ist das akzessorische Aufenthaltsrecht des Klägers als drittstaatsangehöriger Ehegatte einer freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgerin mit deren Wegzug erloschen. Das Berufungsgericht ist jedoch unter Verstoß gegen Unionsrecht davon ausgegangen, dass dieses Recht nach der erneuten Niederlassung der Ehefrau schon mangels Wiederaufnahme einer ehelichen Lebensgemeinschaft nicht neu entstehen konnte. Das Berufungsurteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Mangels ausreichender tatrichterlicher Feststellungen zum Bestehen eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts des Klägers im Zeitpunkt der Scheidung kann der Senat nicht selbst abschließend entscheiden, sodass der Rechtsstreit zur weiteren Aufklärung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist (§ 144 Abs. 3 Nr. 2 VwGO).

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Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der - nur noch - streitgegenständlichen Verlustfeststellung des Beklagten ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts (BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2015 - 1 C 22.14 - Buchholz 402.261 § 4a FreizügG/EU Nr. 4 Rn. 11). Rechtsänderungen während des Revisionsverfahrens sind zu beachten, wenn das Berufungsgericht - entschiede es anstelle des Bundesverwaltungsgerichts - sie zu berücksichtigen hätte (BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2012 - 1 C 20.11 - Buchholz 402.242 § 55 AufenthG Nr. 15 Rn. 15). Der revisionsgerichtlichen Beurteilung zugrunde zu legen ist daher das Freizügigkeitsgesetz EU vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950, 1986), zuletzt geändert durch das am 29. Juli 2017 in Kraft getretene Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 20. Juli 2017 (BGBl. I S. 2780).

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Nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt werden, wenn die Voraussetzungen dieses Rechts innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind oder diese nicht vorliegen. Nach Ablauf dieser Frist erwerben Unionsbürger und ihre Familienangehörigen ein Daueraufenthaltsrecht und erlischt die Möglichkeit einer Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU.

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1. Der Kläger hat - im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht - kein Daueraufenthaltsrecht als Familienangehöriger eines Unionsbürgers nach § 4a FreizügG/EU erworben. Zwar ist seine geschiedene Ehefrau als bulgarische Staatsangehörige Unionsbürgerin. Er hat sich mit ihr aber nicht als Familienangehöriger rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten (vgl. § 4a Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU i.V.m. Art. 16 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG).

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2. Zu Recht ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass sich der Kläger auch nicht auf ein aus der Ehe mit einer Unionsbürgerin abgeleitetes unionsrechtliches Aufenthaltsrecht berufen kann. Denn dieses Aufenthaltsrecht ist spätestens mit der Scheidung der Ehe entfallen.

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Nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU haben Unionsbürger und ihre Familienangehörigen nach Maßgabe dieses Gesetzes das Recht auf Einreise und Aufenthalt. Familienangehörige sind nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU unter den Voraussetzungen der §§ 3 und 4 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt. Nach der Legaldefinition in § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ist der Ehegatte eines Unionsbürgers im Einklang mit Art. 2 Nr. 2 Buchst. a Richtlinie 2004/38/EG zwar "Familienangehöriger". Die Ehegatteneigenschaft endet aber mit der Scheidung der Eheleute (vgl. EuGH, Urteil vom 8. November 2012 - C-40/11 [ECLI:EU:C:2012:691], Iida - Rn. 57 f.).

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3. Der Kläger hat - entgegen der Auffassung der Revision - auch nicht bereits mit dem Wegzug seiner Ehefrau im März 2014 ein eigenständiges unionsrechtliches Aufenthaltsrecht erworben. Weder nach der Richtlinie 2004/38/EG noch nach dem Freizügigkeitsgesetz EU wandelt sich das abgeleitete Aufenthaltsrecht eines drittstaatsangehörigen Ehegatten mit dem Wegzug des Unionsbürgers in ein eigenständiges Aufenthaltsrecht. Nach einem Wegzug des Unionsbürgers sind vom Verlust des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat - unter bestimmten Voraussetzungen - nur dessen Kinder und der Elternteil, der die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt (vorläufig) ausgeschlossen (vgl. § 3 Abs. 4 FreizügG/EU i.V.m. Art. 12 Abs. 3 Richtlinie 2004/38/EG).

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4. In Betracht kommt allerdings ein eigenständiges unionsrechtliches Aufenthaltsrecht nach § 3 Abs. 5 Nr. 1 FreizügG/EU. Danach behalten Ehegatten, die nicht Unionsbürger sind, in Umsetzung der Vorgaben aus Art. 13 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2004/38/EG u.a. bei Scheidung der Ehe ein Aufenthaltsrecht, wenn sie die für Unionsbürger geltenden Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 oder Nr. 5 FreizügG/EU erfüllen und die Ehe bis zur Einleitung des gerichtlichen Scheidungsverfahrens mindestens drei Jahre bestanden hat, davon mindestens ein Jahr im Bundesgebiet.

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4.1 Der Kläger erfüllt in seiner Person die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU (Aufenthalt zur Ausübung einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit). Er reiste nach Deutschland ein, um hier zu arbeiten, war nach Aktenlage seitdem bei verschiedenen Arbeitgebern beschäftigt und legte in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht einen bis 1. Mai 2018 befristeten Arbeitsvertrag bei der Firma Z. als Lagermitarbeiter vor.

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4.2 Bei Einleitung des gerichtlichen Scheidungsverfahrens im Januar 2016 bestand die Ehe des Klägers seit mindestens drei Jahren, davon mindestens ein Jahr im Bundesgebiet. Die Eheschließung erfolgte im April 2008, im Dezember 2012 zogen die Eheleute nach Deutschland. Der gemeinsame Aufenthalt im Bundesgebiet war lediglich durch einen vorübergehenden Wegzug der Ehefrau von März 2014 bis August 2015 unterbrochen. Den unionsrechtlichen Vorgaben ist nicht zu entnehmen, dass eine derartige Unterbrechung des gemeinsamen Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat anspruchsschädlich ist.

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4.3 Ein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach Scheidung setzt - wie sich bereits aus dem Wortlaut des § 3 Abs. 5 Nr. 1 FreizügG/EU ("... behalten [...] ein Aufenthaltsrecht ...") und des Art. 13 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2004/38/EG ("... führt [...] nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts") ergibt - aber außerdem das Bestehen eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts im Zeitpunkt der Scheidung voraus. Diese Voraussetzung hat das Berufungsgericht mit einer Begründung verneint, die nicht mit Unionsrecht zu vereinbaren ist. Der Kläger war nach Trennung von seiner Ehefrau bis zur Scheidung weiterhin Ehegatte einer Unionsbürgerin (a), die er nach deren erneuter Aufenthaltnahme in Deutschland - entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts - auch im Sinne des § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 3 Abs. 1 Richtlinie 2004/38/EG begleitete (b). Damit hängt ein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach Scheidung allein von der vom Berufungsgericht offengelassenen Frage ab, ob die Ehefrau des Klägers bei Scheidung der Ehe in Deutschland freizügigkeitsberechtigt war.

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a) Der Kläger war bis zur Rechtskraft der Scheidung "Ehegatte" einer Unionsbürgerin. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) kann bei der Einstufung eines Ehegatten als Familienangehöriger eines Unionsbürgers das eheliche Band nicht als aufgelöst angesehen werden, solange dies nicht durch eine zuständige Stelle ausgesprochen worden ist, was bei Ehegatten, die lediglich voneinander getrennt leben, nicht der Fall ist, selbst wenn sie die Absicht haben, sich später scheiden zu lassen (EuGH, Urteil vom 8. November 2012 - C-40/11 - Rn. 58 f.).

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b) Der Kläger erfüllte bei Scheidung auch das Tatbestandsmerkmal des "Begleitens". Hierbei handelt es sich um einen unionsrechtlichen Begriff, der sich (u.a.) in Art. 3 Abs. 1 Richtlinie 2004/38/EG findet und in Anbetracht des Kontextes und der Ziele der Richtlinie 2004/38/EG nicht eng ausgelegt und keineswegs seiner praktischen Wirksamkeit beraubt werden darf (EuGH, Urteil vom 25. Juli 2008 - C-127/08 [ECLI:EU:C:2008:449], Metock u.a. - Rn. 84).

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aa) Nach der Rechtsprechung des EuGH muss der Ehegatte eines Unionsbürgers nicht notwendigerweise ständig bei dem Unionsbürger wohnen, um Inhaber eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts zu sein (EuGH, Urteil vom 8. November 2012 - C-40/11 - Rn. 58 f.). Die Voraussetzung, dass er den Unionsbürger "begleiten" oder ihm "nachziehen" muss, ist so zu verstehen, dass sie nicht auf die Verpflichtung der Eheleute abstellt, unter demselben Dach zusammenzuwohnen, sondern auf diejenige, dass beide in demselben Mitgliedstaat bleiben, in dem der Ehegatte, der Unionsbürger ist, von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht. Folglich kann sich der drittstaatsangehörige Ehegatte eines Unionsbürgers auf das in der Richtlinie 2004/38/EG vorgesehene Aufenthaltsrecht nur in dem Aufnahmemitgliedstaat berufen, in dem der Unionsbürger wohnt (EuGH, Urteil vom 16. Juli 2015 - C-218/14 [ECLI:EU:C:2015:476], Singh - Rn. 54 f. m.w.N.). Aufnahmemitgliedstaat ist nach der Legaldefinition in Art. 2 Nr. 3 Richtlinie 2004/38/EG der Mitgliedstaat, in den sich der Unionsbürger begibt, um dort sein Recht auf Freizügigkeit oder Aufenthalt auszuüben. Auch in einer Entscheidung zum Daueraufenthaltsrecht, das bei Familienangehörigen nach Art. 16 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG voraussetzt, dass diese sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen "mit" dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben, geht der EuGH davon aus, dass ein Ehegatte mit Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht die Eigenschaft als Ehegatte eines Unionsbürgers, der diesen begleitet oder ihm in den Aufnahmemitgliedstaat nachzieht, verliert (EuGH, Urteil vom 10. Juli 2014 - C-244/13 [ECLI:EU:C: 2014:2068], Ogieriakhi - Rn. 36 ff.). In der Rechtsprechung des EuGH ist weiter geklärt, dass es für den Begriff des "Begleitens" auch nicht darauf ankommt, in welcher Reihenfolge der Unionsbürger und sein Ehegatte im Aufnahmemitgliedstaat Aufenthalt genommen haben. Vielmehr umfasst der Begriff sowohl Familienangehörige eines Unionsbürgers, die mit diesem in den Aufnahmemitgliedstaat eingereist sind, als auch diejenigen, die sich mit ihm dort aufhalten, ohne dass danach zu unterscheiden ist, ob die Drittstaatsangehörigen vor oder nach dem Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat eingereist sind oder bevor oder nachdem sie Angehörige seiner Familie wurden (EuGH, Urteil vom 25. Juli 2008 - C-127/08 - Rn. 93). Verlässt ein Unionsbürger den Aufnahmemitgliedstaat und lässt er sich in einem anderen Mitgliedstaat oder in einem Drittland nieder, entfällt damit aber automatisch das abgeleitete Recht seines drittstaatsangehörigen Ehegatten auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat (EuGH, Urteil vom 16. Juli 2015 - C-218/14 - Rn. 58). Wird die Ehe nach einem Wegzug geschieden, kann der drittstaatsangehörige Ehegatte bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen allerdings ein (eigenständiges) Aufenthaltsrecht nach Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a Richtlinie 2004/38/EG erlangen, wenn der Mitgliedstaat, in dem er sich aufhält, bei Einleitung des gerichtlichen Scheidungsverfahrens für den Unionsbürger Aufnahmemitgliedstaat im Sinne von Art. 2 Nr. 3 Richtlinie 2004/38/EG ist (EuGH, Urteil vom 16. Juli 2015 - C-218/14 - Rn. 58 ff.).

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bb) In Anwendung dieser vom EuGH entwickelten Grundsätze zur Auslegung und Anwendung der Richtlinie 2004/38/EG hat der Kläger Ende 2012 mit der gemeinsamen Einreise der Eheleute zum Zwecke der Erwerbstätigkeit ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht erworben. Dieses ist nicht schon durch die spätere Trennung der Eheleute, wohl aber - wie das Berufungsgericht zutreffend festgestellt hat - im März 2014 mit dem Wegzug der Ehefrau erloschen. Denn damit war Deutschland für die Ehefrau des Klägers als Unionsbürgerin nicht mehr Aufnahmemitgliedstaat im Sinne des Art. 2 Nr. 3 Richtlinie 2004/38/EG. Bei Wegzug der Ehefrau war noch kein Scheidungsverfahren eingeleitet, sodass das Aufenthaltsrecht des Klägers seinerzeit auch nicht über § 3 Abs. 5 Nr. 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 13 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. a Richtlinie 2004/38/EG als eigenständiges Aufenthaltsrecht fortbestehen konnte. Für die gegenteilige Auffassung der Revision findet sich weder in der Richtlinie 2004/38/EG noch in der Rechtsprechung des EuGH ein Ansatz. Etwaige Härten für drittstaatsangehörige Ehegatten, die nach einer Trennung nicht sofort zur Sicherung ihres Aufenthaltsrechts ein Scheidungsverfahren einleiten, werden durch die Möglichkeit eines eigenständigen (nationalen) Aufenthaltsrechts nach § 31 AufenthG abgemildert, dessen Voraussetzungen hier aber nicht vorliegen und das hier auch nicht streitgegenständlich ist.

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Nicht im Einklang mit dem Unionsrecht steht indes die Auffassung des Berufungsgerichts, dass im August 2015 mit der Rückkehr der Ehefrau - selbst bei deren unterstellter Freizügigkeitsberechtigung - ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht des Klägers schon deshalb nicht neu entstehen konnte, weil es an der Wiederaufnahme einer ehelichen Lebensgemeinschaft fehlte. Nach der vorstehend dargelegten Rechtsprechung des EuGH hängt das abgeleitete Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen Ehegatten eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers nicht vom Fortbestehen der ehelichen Lebensgemeinschaft ab. Vielmehr genügt nach Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft ein gleichzeitiger Aufenthalt der Eheleute im Aufnahmemitgliedstaat. Entsprechend ist der - aus dem Unionsrecht in das nationale Recht übernommene - Begriff des "Begleitens oder Nachziehens" auszulegen. Dem (erneuten) Entstehen eines akzessorischen Aufenthaltsrechts steht auch nicht entgegen, dass der Kläger Deutschland nicht verlassen hatte und damit im Zeitpunkt der Wiedereinreise seiner Ehefrau bereits hier lebte, da es nach der Rechtsprechung des EuGH für das abgeleitete Aufenthaltsrecht nicht darauf ankommt, in welcher Reihenfolge der Unionsbürger und seine Familienangehörigen ihren Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat nehmen.

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Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Umstand, dass nach § 2 Abs. 7 Satz 2 FreizügG/EU bei einem Familienangehörigen das Nichtbestehen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU (u.a.) festgestellt werden kann, wenn feststeht, dass er dem Unionsbürger nicht zur Herstellung oder Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft nachzieht oder ihn nicht zu diesem Zweck begleitet. Diese Vorschrift wurde durch das Änderungsgesetz vom 21. Januar 2013 (BGBl. I S. 86) in das Freizügigkeitsgesetz/EU eingefügt und dient der Umsetzung des Art. 35 Richtlinie 2004/38/EG (BT-Drs. 17/10746 S. 9). Art. 35 Richtlinie 2004/38/EG ermächtigt die Mitgliedstaaten aber (nur) zu Maßnahmen bei Rechtsmissbrauch oder Betrug (wie z.B. durch Eingehen von Scheinehen). Hierdurch erhalten die Mitgliedstaaten die Möglichkeit zum Erlass der erforderlichen Maßnahmen zum Vorgehen gegen Bindungen, die lediglich zum Zweck der Inanspruchnahme des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts geschlossen wurden (vgl. Erwägungsgrund 28 der Richtlinie 2004/38/EG). Die Mitgliedstaaten sind hingegen nicht berechtigt, dem unionsrechtlichen Begriff des "Begleitens oder Nachziehens" weitere Tatbestandsvoraussetzungen hinzuzufügen, ohne dass im vorliegenden Verfahren abschließend der Frage nachgegangen werden muss, inwieweit § 2 Abs. 7 Satz 2 FreizügG/EU vor diesem Hintergrund einer (einschränkenden) unionsrechtskonformen Auslegung bedarf. Auch den Hinweisen der Europäischen Kommission in ihrer Hilfestellung zur Umsetzung und Anwendung der Richtlinie 2004/38/EG vom 2. Juli 2009 (Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat - Hilfestellung bei der Umsetzung und Anwendung der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten - vom 2. Juli 2009 KOM <2009> 313 endg.) ist nicht zu entnehmen, dass jenseits der Grenze des Rechtsmissbrauchs oder des Betrugs die Möglichkeit besteht, bei Ehegatten von Unionsbürgern ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht allein mit der Begründung zu verneinen, dass keine eheliche Lebensgemeinschaft mehr besteht. In diesem Zusammenhang wird das lange Bestehen eines gemeinsamen Wohnsitzes/Haushalts nur als Anhaltspunkt für das Nichtvorliegen eines Rechtsmissbrauchs angeführt und ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Familienangehörige aus Drittstaaten nicht verpflichtet sind, im Haushalt des EU-Bürgers zu leben, um das Aufenthaltsrecht in Anspruch nehmen zu können (S. 17). Damit unterscheidet sich das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht des drittstaatsangehörigen Ehegatten eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers von den nationalen Familiennachzugsregeln, nach denen Aufenthaltserlaubnisse aus familiären Gründen (nur) zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet erteilt werden (§ 27 Abs. 1 AufenthG; s.a. BVerwG, Beschluss vom 22. Mai 2013 - 1 B 25.12 - Buchholz 402.242 § 7 AufenthG Nr. 7 Rn. 4 zum danach geforderten Maß an Verbundenheit).

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5. Das Berufungsurteil stellt sich auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Soweit der Senat bislang davon ausgegangen ist, dass das in § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU in Umsetzung des Art. 3 Abs. 1 Richtlinie 2004/38/EG aufgestellte Erfordernis des Begleitens oder Nachziehens eine im Sinne des Ehe- und Familienschutzes schutzwürdige tatsächliche Beziehung impliziere (BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2015 - 1 C 22.14 - Buchholz 402.261 § 4a FreizügG/EU Nr. 4 Rn. 23 unter Hinweis auf Nr. 3.1.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Freizügigkeitsgesetz/EU vom 26. Oktober 2009 <GMBl S. 1270> für den Nachzug zu einem freizügigkeitsberechtigten Abkömmling), gilt dies nach der Rechtsprechung des EuGH jedenfalls nicht für das abgeleitete Aufenthaltsrecht eines Ehegatten nach Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft.

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Knüpft das Unionsrecht ein Aufenthaltsrecht in diesen Fällen nur an das rechtliche Band der Ehe und den gleichzeitigen Aufenthalt beider Ehegatten im Aufnahmemitgliedstaat an, kann dem Betroffenen die Berufung auf dieses Recht bis zur Grenze des Rechtsmissbrauchs oder Betrugs - einschließlich der Eingehung von Scheinehen - nicht verwehrt werden. Diese Voraussetzungen liegen hier ersichtlich nicht vor. Aus den tatrichterlichen Feststellungen des Berufungsgerichts ergeben sich keine Hinweise für ein rechtsmissbräuchliches oder betrügerisches Verhalten des Klägers, der vor der Trennung über einen längeren Zeitraum mit seiner Ehefrau zusammengelebt hat. Insbesondere bestehen keine Anhaltspunkte für eine Scheinehe. Jenseits dieser unionsrechtlichen (Missbrauchs-)Grenze haben die Mitgliedstaaten keine Befugnis zur Beschränkung der sich aus der Richtlinie 2004/38/EG ergebenden Aufenthaltsrechte. Dies gilt auch in Fällen, in denen der Unionsbürger - wie hier - nach Trennung von seinem drittstaatsangehörigen Ehegatten und einem vorübergehenden Aufenthalt außerhalb des Aufnahmemitgliedstaats wieder dorthin zurückkehrt.

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6. Der Senat kann aber auch nicht zugunsten des Klägers abschließend über das Bestehen eines eigenständigen Aufenthaltsrecht nach § 3 Abs. 5 Nr. 1 FreizügG/EU entscheiden, da das Berufungsgericht - aus seiner Sicht folgerichtig - keine Feststellungen getroffen hat, ob die Ehefrau des Klägers bei Scheidung der Ehe freizügigkeitsberechtigt war. Den Akten ist lediglich zu entnehmen, dass sie 2012 zum Zwecke der Erwerbstätigkeit nach Deutschland gekommen ist und nach einem vorübergehenden Wegzug inzwischen wieder im Bundesgebiet lebt. Ob sie nach ihrer Wiedereinreise (weiterhin) eine der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU für eine unionsrechtliche Freizügigkeitsberechtigung erfüllte und dies auch noch im Zeitpunkt der Scheidung im Juni 2016 der Fall war, ist nicht festgestellt. Der Rechtsstreit ist daher zur weiteren Aufklärung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Nr. 2 VwGO).

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7. Gründe, den EuGH nach Art. 267 der konsolidierten Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union in der Fassung von 2008 (ABl. C 115 S. 47) - AEUV - anzurufen, bestehen nicht. Eine Vorlagepflicht scheidet schon deshalb aus, weil der Senat nach den vorstehenden Ausführungen mangels tatrichterlicher Feststellungen zur Freizügigkeitsberechtigung der Ehefrau des Klägers bei Scheidung nicht abschließend entscheiden kann. Zudem fehlt es an einer unionsrechtlichen Zweifelsfrage.

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Der EuGH musste über den hier vorliegenden Fall eines nach Trennung nur vorübergehend aus dem Aufnahmemitgliedstaat wegziehenden Unionsbürgers noch nicht entscheiden. Dass - entgegen der Auffassung der Revision - allein der Wegzug des Unionsbürgers nicht dazu führt, dass der verbleibende drittstaatsangehörige Ehegatte ein eigenständiges unionsrechtliches Aufenthaltsrecht erwirbt, ergibt sich zweifelsfrei aus der - insoweit abschließend formulierten - Richtlinie 2004/38/EG (acte clair). Dass in dieser Konstellation aber - entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts - mit der Rückkehr des Unionsbürgers das abgeleitete Aufenthaltsrecht des im Aufnahmemitgliedstaat verbliebenen Ehegatten trotz fortbestehenden Getrenntlebens neu entstehen und bei einer späteren Scheidung in ein eigenständiges Aufenthaltsrecht übergehen kann, ergibt sich aus den vom EuGH entwickelten und vorstehend dargelegten Grundsätzen zum Freizügigkeitsrecht drittstaatsangehöriger Ehegatten (acte éclairé). Diese Auslegung steht im Einklang mit dem Sinn und Zweck der Richtlinie 2004/38/EG. Sie soll Unionsbürgern die Ausübung ihres Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt erleichtern (vgl. Erwägungsgrund 4 der Richtlinie 2004/38/EG) und erstreckt sich auf Familienangehörige, damit Unionsbürger dieses Recht unter objektiven Bedingungen in Freiheit und Würde ausüben können (vgl. Erwägungsgrund 5 der Richtlinie 2004/38/EG). Hiervon ausgehend liegt der Rechtsprechung des EuGH ersichtlich die Vorstellung zugrunde, dass bei Eheleuten nach Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft bis zur Scheidung allein wegen der Möglichkeit einer Versöhnung eine hinreichende familiäre Nähebeziehung (fort-)besteht und damit auch in dieser Situation die Verweigerung eines Aufenthaltsrechts für den drittstaatsangehörigen Ehepartner (abstrakt) geeignet ist, den Unionsbürger davon abzuhalten, von seinem Recht auf Einreise und Aufenthalt Gebrauch zu machen.

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8. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.