BSG 5. Senat, Urteil vom 13.12.2018, B 5 RE 3/18 R

Das Urteil unter dem Aktenzeichen B 5 RE 3/18 R (BSG)

vom 13. Dezember 2018 (Donnerstag)


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Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 12. Dezember 2017 aufgehoben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 25. April 2017 zurückgewiesen.

Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

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Streitig ist, ob die Klägerin aufgrund des Bescheides der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) vom 13.7.1996 für ihre ab dem 1.11.2006 ausgeübte Tätigkeit bei dem Beigeladenen zu 3 von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit ist.

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Die am 27.12.1967 geborene Klägerin ist Diplom-Bauingenieurin. Sie arbeitete vom 20.4.1993 bis 30.9.2000 als Projektmanagerin im Bereich Tiefbau beim Staatlichen Bauamt in K. und vom 1.10.2000 bis 30.6.2006 als Projektleiterin für Entwässerungs- und Straßenbaumaßnahmen bei der Stadt M. (Beigeladene zu 2). Seit dem 1.11.2006 ist sie als Projektleiterin beim Land H. (Beigeladener zu 3) beschäftigt. Sie ist Pflichtmitglied beim Versorgungswerk der Architektenkammer NRW (Beigeladene zu 1) und kraft Satzung freiwilliges Mitglied der Ingenieurkammer Bau NRW.

3

Auf Antrag der Klägerin vom 29.12.1995 befreite die BfA sie mit Bescheid vom 13.7.1996 von der Versicherungspflicht in der Rentenversicherung der Angestellten ab dem 29.12.1995 (Beginn der Mitgliedschaft in der Versorgungseinrichtung der Architektenkammer NRW).

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Der formularmäßig gestaltete Bescheid mit der Überschrift "Befreiung von der Rentenversicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI)" lautet wie folgt:

"Auf Ihren Antrag werden Sie von der Versicherungspflicht zur Rentenversicherung der Angestellten befreit.

Eingangsdatum des Befreiungsantrags

29.12.95

Beginn des Beschäftigungsverhältnisses bzw. der derzeitigen Versicherungspflicht

20.04.93

Beginn der Mitgliedschaft in der Versorgungseinrichtung (i. S. von § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI)

29.12.95

Versorgungseinrichtung

Beginn der Befreiung

Versorgungswerk der Architektenkammer NRW

        

Postfach 32 12 45

        

40427 Düsseldorf

29. Dez. 1995

                 

Die Befreiung wirkt erst … ab Beginn der Mitgliedschaft in der Versorgungseinrichtung (= angekreuzte Alternative).

        

Die Befreiung gilt für die Dauer der Pflichtmitgliedschaft und einer daran anschließenden freiwilligen Mitgliedschaft in der Versorgungseinrichtung unter Beibehaltung der Mitgliedschaft in der jeweiligen Berufskammer, soweit Versorgungsabgaben in gleicher Höhe geleistet werden, wie ohne die Befreiung Beiträge zur Rentenversicherung der Angestellten zu zahlen wären. Sie ist grundsätzlich auf die jeweilige Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit beschränkt.

Die Befreiung erstreckt sich auch auf andere versicherungspflichtige Beschäftigungen oder Tätigkeiten, wenn diese infolge ihrer Eigenart oder vertraglich im Voraus zeitlich begrenzt sind und insoweit satzungsgemäß einkommensbezogene Beiträge zur Versorgungseinrichtung gezahlt werden."

Es folgt die Rechtsbehelfsbelehrung und anschließend der Text:

"Die BfA hat bei Wegfall der Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI die Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 48 Abs. 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch aufzuheben.

Sie sind daher verpflichtet, der BfA die Umstände anzuzeigen, die zum Wegfall der Voraussetzungen für die Befreiung führen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn

- die Mitgliedschaft in der Versorgungseinrichtung endet,

- Versorgungsabgaben nicht mehr in der dem Einkommen entsprechenden Höhe zu entrichten sind.

Die Befreiung endet erst mit der förmlichen Aufhebung durch die BfA.

Die als Anlage beigefügte Bescheinigung über die Befreiung ist dem Arbeitgeber bzw. der Stelle auszuhändigen, die sonst zur Zahlung der Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung der Angestellten verpflichtet wäre.

Falls Sie inzwischen Ihren Arbeitgeber gewechselt haben,

bitten wir den früheren (vorherigen) Arbeitgeber von der Befreiung zu verständigen."

Der Befreiung als Anlage beigefügt war eine Karte ("Bescheinigung") der BfA. Diese enthielt den Hinweis:

"Diese Karte ist dem jeweiligen Arbeitgeber für die Dauer des Beschäftigungsverhältnisses auszuhändigen. Sie ist … bei Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses dem Arbeitnehmer zurückzugeben."

5

Mit einem am 2.4.2015 eingegangenen Antrag begehrte die Klägerin die "Prüfung bzw. Statusfeststellung", dass die 1995 für ihre damalige Tätigkeit ausgestellte Befreiung auch für ihre jetzige Tätigkeit bei dem Beigeladenen zu 3 gelte. Mit Bescheid vom 30.6.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.1.2016 lehnte die Beklagte eine Befreiung der Klägerin von der Rentenversicherungspflicht ab. Eine Befreiung für die ab dem 1.11.2006 ausgeübte Beschäftigung nach § 6 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB VI sei nicht möglich, weil dessen Voraussetzungen nicht vorlägen. Die Klägerin sei nicht Pflichtmitglied einer berufsständischen Kammer. Die mit Bescheid vom 13.7.1996 ausgesprochene Befreiung von der Rentenversicherungspflicht wirke nicht für die Beschäftigung ab dem 1.11.2006, weil es sich insoweit nicht um dieselbe Beschäftigung ("jeweilige Beschäftigung" iS des § 231 Abs 2 SGB VI) handele, für die zum damaligen Zeitpunkt die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht ausgesprochen worden sei.

6

Das SG Koblenz hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 25.4.2017). Auf die Berufung der Klägerin hat das LSG Rheinland-Pfalz das Urteil des SG sowie den Bescheid der Beklagten vom 30.6.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.1.2016 aufgehoben und festgestellt, dass die Klägerin aufgrund des Bescheides der BfA vom 13.7.1996 weiterhin von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit sei (Urteil vom 12.12.2017). Der Bescheid vom 13.7.1996, der ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung sei, regele zwischen den Beteiligten bindend, dass die Klägerin von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit sei, solange sie eine die Mitgliedschaft bei dem Beigeladenen zu 1 vermittelnde Beschäftigung als Projektleiterin ausübe. Dass ein Verwaltungsakt über die Feststellung von Versicherungsfreiheit Dauerwirkung besitze, habe der 5. Senat des BSG in der Entscheidung vom 23.4.2015 (B 5 RE 19/14 R) ausdrücklich für den Bereich der Rentenversicherung festgestellt. Dem schließe sich der Berufungssenat im vorliegenden Fall an. In den Verfügungssätzen des formularmäßig gehaltenen Verwaltungsaktes werde die Befreiung von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung, deren Beginn zum 29.12.1995 und durch Beschränkung auf "die jeweilige Beschäftigung" dessen Umfang bzw dessen Dauer bestimmt. Ein Bezug zu einem konkreten einzelnen Beschäftigungsverhältnis, nämlich dem Staatlichen Bauamt in K., werde nicht hergestellt. Die Beschränkung auf die jeweilige Beschäftigung gebe nur das im Gesetz verankerte Regel-Ausnahmeverhältnis wieder und bringe zum Ausdruck, dass die Befreiung grundsätzlich nur für eine die Mitgliedschaft im Versorgungswerk vermittelnde Beschäftigung gelte, die Befreiung sich aber ausnahmsweise auf andere versicherungspflichtige Beschäftigungen oder Tätigkeiten erstrecken könne, wenn diese infolge ihrer Eigenart oder vertraglich im Voraus zeitlich begrenzt seien. Zudem werde in dem dem Bescheid zugrunde liegenden Antragsformular ausdrücklich nach dem "derzeitigen" Beschäftigungsverhältnis gefragt. Dies verdeutliche, dass die Befreiung auch für weitere Beschäftigungsverhältnisse Bedeutung haben würde. Ebenso besage der Hinweis "Falls Sie inzwischen Ihren Arbeitgeber gewechselt haben, bitten wir den früheren (vorherigen) Arbeitgeber von der Befreiung zu verständigen", dass der Befreiungsbescheid bei einem Wechsel des Arbeitgebers zwischen Antragstellung und Bekanntgabe des Befreiungsbescheides für beide Arbeitgeber gelten solle. Zu diesem Verständnis passe, dass in den hinter der Rechtsbehelfsbelehrung angeführten Hinweisen konkrete Fallgruppen genannt würden, bei denen eine Mitteilungspflicht der Klägerin wegen Änderung der für die Befreiung maßgeblichen Verhältnisse bestehe. Dass ein Arbeitgeberwechsel hier nicht aufgeführt werde, lasse aus der Sicht eines objektiven Empfängers nur den Schluss zu, der Wechsel des Arbeitgebers stelle keine mitteilungspflichtige wesentliche Änderung der Verhältnisse dar, die die Befreiung berühre. Darüber hinaus werde diese Auffassung auch durch die Formulierungen in der dem Bescheid beigefügten (Befreiungs-)"Bescheinigung" bestätigt. Schließlich habe sich der Bescheid vom 13.7.1996 auch nicht durch eine gesetzliche Änderung erledigt. Zwar könnten seit dem 1.1.1996 angestellte Ingenieure wie die Klägerin nicht mehr Pflichtmitglied in einer berufsständischen (Ingenieur-)Kammer sein, was eine Befreiung ausschließe. Nach der Übergangsregelung des § 231 Abs 2 SGB VI würden zuvor erteilte Befreiungen aber nicht berührt.

7

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte insbesondere eine Verletzung von §§ 133, 157 BGB, § 48 Abs 1 SGB X und § 39 Abs 2 SGB X. Das LSG verkenne den Regelungsgehalt des Bescheides vom 13.7.1996. Die bundesrechtlichen Maßstäbe für die Auslegung von Verwaltungsakten gemäß §§ 133, 157 BGB würden unzutreffend angewandt und verletzten damit revisibles Recht (§ 162 SGG). Insbesondere habe sich der nach § 6 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB VI notwendige Befreiungsantrag mit Angabe des Arbeitgebers (Staatliches Bauamt in K.) und des Beginns des "derzeitigen" Beschäftigungsverhältnisses (hier: 20.4.1993) objektiv nicht auf jegliche (auch vergangene oder künftige) die Mitgliedschaft im Versorgungswerk vermittelnde Tätigkeiten bezogen. Aus dem ausdrücklichen Hinweis im Bescheid ergebe sich, dass die Befreiung grundsätzlich auf die jeweilige Beschäftigung oder Tätigkeit beschränkt sei. Bei einem solchen Sachverhalt erledige sich der Bescheid mit Aufgabe dieser Tätigkeit (hier: 30.9.2000) gemäß § 39 Abs 2 SGB X auf andere Weise, eine Aufhebung nach § 48 Abs 1 SGB X sei nicht erforderlich.

8

Die Beklagte beantragt,

        

das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 12. Dezember 2017 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 25. April 2017 zurückzuweisen.

9

Die Klägerin beantragt,

        

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

10

Gegenstand der Auslegung des Bescheides über die Befreiung von der Rentenversicherungspflicht seien ausschließlich der an die Klägerin gerichtete Bescheid vom 13.7.1996 sowie die zur Vorlage bei dem jeweiligen Arbeitgeber bestimmte Bescheinigung/Karte als Nachweis über die Erteilung der Befreiung. Der Antrag der Klägerin sei, anders als der Bescheid und die dem Arbeitgeber vorzulegende Bescheinigung, keine öffentliche Urkunde und habe keinen rechtsmittelfähigen Inhalt, mit dem der Gegenbeweis geführt werden könne. Die Auslegung der Beklagten, dass die Befreiung grundsätzlich auf die jeweilige Beschäftigung beschränkt sei, sei nach § 163 SGG nicht erheblich. Das BSG habe entschieden, dass einschlägige Formularbescheide nur die Befreiung und ihren Beginn regelten und der Bescheid im Übrigen nur Hinweise enthalte. Unklarheiten aus der Sphäre der Verwaltung gingen jedenfalls nicht zulasten des Erklärungsempfängers. Im Übrigen sei der Senat an den Inhalt und das Ergebnis der Auslegung des Befreiungsbescheides durch das LSG gebunden, weil es sich dabei um tatsächliche Feststellungen iS von § 163 SGG handele. Das BSG dürfe nur prüfen, ob das Tatsachengericht bei der Ermittlung des Inhalts einer Willenserklärung die revisiblen bundesrechtlichen Auslegungsgrundsätze (§§ 133, 157 BGB) sowie allgemeine Erfahrungssätze beachtet und nicht gegen Denkgesetze verstoßen habe. Setze das BSG seine Rechtsprechung fort, die mit der ständigen Rechtsprechung der meisten Senate des BVerwG über die Anwendung der mit § 163 SGG inhaltsgleichen Vorschrift des § 137 Abs 2 VwGO nicht zu vereinbaren sei, liege eine Divergenz vor, die die Anrufung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes erforderlich mache.

11

Der Beigeladene zu 1 schließt sich dem Antrag der Klägerin an.

12

Die zulässige Revision der Beklagten ist iS des § 170 Abs 2 S 1 SGG begründet. Das Urteil des LSG war aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das klageabweisende Urteil des SG zurückzuweisen. Die Klägerin ist für ihre ab dem 1.11.2006 ausgeübte Tätigkeit bei dem Beigeladenen zu 3 nicht von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit.

13

A. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist der Verwaltungsakt vom 30.6.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.1.2016 (§ 95 SGG). Die Klägerin hat vor dem LSG beantragt, das Urteil des SG und diesen Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides aufzuheben und festzustellen, dass sie aufgrund des Bescheides der BfA vom 13.7.1996 weiterhin von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit ist.

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Die neben der Anfechtungsklage verfolgte Feststellungsklage ist statthaft, weil nach § 55 Abs 1 Nr 1 SGG mit der Klage die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden kann (vgl BSG Urteil vom 31.10.2012 - B 12 R 8/10 R - SozR 4-2600 § 6 Nr 8 RdNr 12). Es liegt auch ein berechtigtes (Feststellungs-)Interesse iS des § 55 Abs 1 SGG an der begehrten Feststellung des Umfangs bzw der Dauer ihrer Befreiung von der Versicherungspflicht bzw des (Nicht-)Bestehens einer solchen für ihr aktuelles Beschäftigungsverhältnis vor (vgl BSG, aaO, RdNr 12).

15

B. Das Feststellungsbegehren der Klägerin ist unbegründet und der Bescheid vom 30.6.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.1.2016 rechtmäßig. Eine Befreiung der Klägerin von der Rentenversicherungspflicht für die ab dem 1.11.2006 bei dem Beigeladenen zu 3 ausgeübte Beschäftigung ergibt sich nicht aus dem Bescheid der BfA vom 13.7.1996. Dieser Bescheid hat eine Befreiung von der Versicherungspflicht allein für die Beschäftigung beim Staatlichen Bauamt in K. ab dem 29.12.1995 ausgesprochen. Er ist mit Aufgabe dieser Beschäftigung unwirksam geworden.

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1. Entgegen der Ansicht der Klägerin ist der Senat zu einer eigenen Auslegung des Bescheides der BfA vom 13.7.1996 befugt und hieran nicht durch § 163 SGG gehindert.

17

Es spricht viel dafür, dass die Auslegung eines Verwaltungsaktes stets (auch) Aufgabe des Revisionsgerichts ist (vgl zB BSGE 48, 56, 58 = SozR 2200 § 368a Nr 5 S 10; BSG Urteil vom 18.2.1987 - 7 RAr 41/85 - Juris RdNr 26; BSGE 77, 219, 223 = SozR 3-2500 § 124 Nr 3 S 28; BSG SozR 4-5860 § 15 Nr 1 RdNr 23; einschränkend BSG SozR 4-2500 § 106 Nr 47 RdNr 17 mwN; vgl auch BFH Urteil vom 18.11.2015 - XI R 32/14 - Juris RdNr 35; BFH Urteil vom 11.11.2014 - VIII R 37/11 - Juris RdNr 30). Dazu bedarf es indes hier keiner abschließenden Entscheidung.

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a) Einer uneingeschränkten Überprüfung durch das Revisionsgericht unterliegen jedenfalls Formularbescheide eines für das gesamte Bundesgebiet zuständigen Versicherungsträgers. Formularbescheide bestehen aus vorformulierten Texten, die in einer Vielzahl von Fällen im Wesentlichen wortgleich verwendet werden. Um einen solchen Formularbescheid handelt es sich bei dem Bescheid der BfA, der Rechtsvorgängerin der Deutschen Rentenversicherung Bund, vom 13.7.1996 (vgl auch die Bescheide der BfA in den Verfahren B 5 RE 3/17 R <LSG Nordrhein-Westfalen>, Revision zugelassen mit dem Hinweis auf zahlreiche alte Formbescheide der früheren BfA; B 5 RE 1/18 R <LSG Rheinland-Pfalz>; B 5 RE 4/18 R <Bayerisches LSG> - Formularbescheide zu § 6 Abs 1 S 1 SGB VI). Derartige Formularbescheide sind den sogenannten typischen Erklärungen gleichzustellen.

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Typische Erklärungen sind Äußerungen, die in großer Zahl wortgleich abgegeben werden, zB bei der Verwendung von Formularen, in denen der Erklärende entweder einen vorformulierten Text ankreuzt oder unterschreibt (zur Definition BSGE 63, 167, 171 = SozR 5870 § 10 Nr 9 S 18). Werden bei der Abgabe derartiger Erklärungen nicht nur im Bezirk eines Berufungsgerichts solche übereinstimmenden Vordrucke verwendet, darf das Revisionsgericht im Interesse einer einheitlichen Auslegung und damit zur Wahrung der Rechtseinheit die vorinstanzliche Entscheidung - soweit sie den Inhalt der abgegebenen Erklärung betrifft - uneingeschränkt überprüfen und erforderlichenfalls die Erklärung selbst auslegen. Die Beschränkungen des § 163 SGG gelten nicht (BSGE 63, 167, 171 = SozR 5870 § 10 Nr 9 S 18; BSGE 76, 203, 204 = SozR 3-5870 § 10 Nr 7 S 49; BSGE 78, 1, 11 = SozR 3-2600 § 58 Nr 5 S 25; BSG SozR 4-2600 § 236a Nr 2 RdNr 23; vgl auch BGHZ 104, 292, 293; 112, 204, 210; BAG AP Nr 32 zu § 133 BGB und Nr 33 zu § 133 BGB; BAG Urteil vom 17.4.1970 - 1 AZR 302/69 - Juris RdNr 22).

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Ebenso wie typische Erklärungen verlangen auch Formularbescheide, die von einem für das gesamte Bundesgebiet zuständigen Rentenversicherungsträger verwendet worden sind, im Hinblick auf den Zweck der Revision, die Einheit des Rechts zu wahren und eine einheitliche Rechtsprechung zu gewährleisten, eine umfassende revisionsgerichtliche Überprüfungs- und damit Auslegungsbefugnis. Die Frage nach dem Bedeutungsgehalt eines Formularbescheides stellt sich nicht nur in dem jeweiligen konkreten Einzelfall, sondern in allen Fällen, in denen der Versicherungsträger einen derartigen Bescheid verwendet. Sie kann deshalb nicht von Fall zu Fall und von Gericht zu Gericht unterschiedlich beantwortet werden. Vielmehr ist es Aufgabe der Revisionsinstanz, einen Formularbescheid einheitlich auszulegen, was nur möglich ist, wenn das Revisionsgericht weder an das vom LSG vertretene Auslegungsergebnis noch an dessen Feststellungen zum Wortlaut des Bescheides gebunden ist, sondern diesen selbstständig ermitteln und feststellen kann (vgl BSGE 84, 90, 94 f, 97 = SozR 3-2500 § 18 Nr 4 S 16 f, 19; BSG SozR 3-2500 § 18 Nr 6 S 26 f; SozR 4-2500 § 18 Nr 5 RdNr 18 und BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 8 RdNr 31 jeweils mwN zur Feststellung genereller Tatsachen).

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b) Diesem Verständnis stehen die von der Klägerin in der Revisionserwiderung zitierten Entscheidungen des BVerwG, die nur eine eingeschränkte revisionsgerichtliche Nachprüfung der durch die Tatsachengerichte vorgenommenen Auslegung einer Erklärung erlauben, bereits deswegen nicht entgegen, weil sie keine typisierten Verwaltungsakte betreffen.

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Abgesehen davon liegt hier entgegen der Rechtsauffassung der Klägerin auch deshalb keine Divergenz zwischen der Rechtsprechung des BSG einerseits und der Rechtsprechung des BVerwG andererseits vor, die die Anrufung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes erforderlich machen würde, weil die Rechtsprechung des BVerwG zur Frage der revisionsgerichtlichen Auslegungsbefugnis von Verwaltungsakten nicht einheitlich ist.

23

Nach den von der Klägerin zitierten Urteilen des 4. und 7. Senats des BVerwG (Urteile vom 3.8.2016 - 4 C 3/15 - Juris RdNr 21 und Urteil vom 22.10.2015 - 7 C 15/13 - Juris RdNr 33; s auch Urteil vom 18.12.2014 - 4 C 35/13 - Juris RdNr 74) ist der tatrichterlich ermittelte Erklärungsinhalt als Tatsachenfeststellung nach § 137 Abs 2 VwGO bindend, wenn das Tatsachengericht den Regelungsgehalt eines Verwaltungsaktes nach den zu §§ 133, 157 BGB entwickelten Regeln ermittelt hat. Das Revisionsgericht kann den Verwaltungsakt nur dann selbst auslegen, wenn das Tatsachengericht das Auslegungsergebnis nicht begründet hat oder eine den Anforderungen des § 139 Abs 3 S 4 VwGO genügende Verfahrensrüge erhoben worden ist (vgl zum Inhalt einer Verfahrensrüge BVerwG Beschluss vom 18.6.2018 - 4 B 63/17 - Juris RdNr 10). Nach der Entscheidung des 2. Senats des BVerwG vom 30.10.2013 (BVerwG - 2 C 23/12 - BVerwGE 148, 127 RdNr 14 mwN; ebenso BVerwG Urteil vom 30.4.2014 - 2 C 65/11 - Juris RdNr 16) ist das BVerwG an den vom Tatsachengericht festgestellten Erklärungsinhalt gebunden, wenn das Gericht sein Ergebnis rechtsfehlerfrei begründet hat. Die Bindung tritt nicht ein, wenn die Auslegung auf einer unvollständigen Würdigung der festgestellten Tatsachen, einem Rechtsirrtum, einem Verstoß gegen eine Auslegungsregel oder einem Verstoß gegen einen allgemeinen Erfahrungssatz oder ein Denkgesetz beruht (vgl zuletzt BVerwG Beschluss vom 18.6.2018 - 4 B 63/17 - RdNr 10). Nur in diesen Fällen kann das BVerwG die Erklärung selbst auslegen. Der 6. Senat des BVerwG hat in seinem Urteil vom 21.6.2017 (6 C 3/16 - BVerwGE 159, 148 RdNr 14) ausgeführt, das Revisionsgericht sei nach § 137 Abs 2 VwGO an die tatsächlichen Feststellungen gebunden, die das Tatsachengericht seiner Auslegung zugrunde gelegt habe. Offengelassen hat dieser Senat, ob sich die Bindung auch auf das Auslegungsergebnis selbst, dh auf die tatrichterliche Würdigung des festgestellten Sachverhalts anhand der allgemeinen Auslegungsregeln erstreckt. Der 5. Senat des BVerwG hat im Urteil vom 11.5.2006 (5 C 10/05 - BVerwGE 126, 33 RdNr 20) unentschieden gelassen, ob und unter welchen Voraussetzungen das BVerwG berechtigt und auch ohne hierauf bezogene Verfahrensrüge verpflichtet ist, den Inhalt von Verwaltungsakten als Revisionsgericht selbstständig zu bestimmen.

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Nach den Entscheidungen des 1. und 9. Senats des BVerwG darf das Revisionsgericht den Regelungsgehalt eines Bescheides dagegen selbstständig ermitteln, weil es sich insoweit um die rechtliche Bewertung des Inhalts des Bescheides handele. Rechtliche Bewertungen im Rahmen der Auslegung eines Verwaltungsaktes unterfallen nach dieser Rechtsprechung nicht der Bindungswirkung nach § 137 Abs 2 VwGO (Urteil des 1. Senats vom 25.8.2009 - 1 C 30/08 - BVerwGE 134, 335 RdNr 18; BVerwG Urteil vom 3.11.1998 - 9 C 51/97 - Juris RdNr 12; so auch frühere Judikate des 4. und 2. Senats des BVerwG: Urteil des 4. Senats des BVerwG vom 27.9.1990 - 4 C 44/87 - BVerwGE 85, 348, 366; Urteil des 2. Senats vom 9.6.1983 - 2 C 34/80 - BVerwGE 67, 222, 234; Urteil vom 2.9.1999 - 2 C 22/98 - BVerwGE 109, 283, 286; anders allerdings zur Auslegung von Willensäußerungen der öffentlichen Verwaltung Urteil vom 9.12.2015 - 9 C 28/14 - Juris RdNr 24).

25

Gemäß § 2 Abs 2 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes müssen aber gerichtsinterne Abweichungen - wie hier innerhalb des BVerwG - zunächst durch Anrufung des Großen Senats des jeweiligen obersten Gerichtshofs bereinigt werden (vgl Katholnigg, Strafgerichtsverfassungsrecht, 3. Aufl 1999, § 2 RSprEinhG RdNr 2).

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c) Im Übrigen ist selbst unter Zugrundelegung der von der Klägerin zitierten Rechtsprechung des BVerwG hier eine uneingeschränkte Auslegung zulässig. Danach tritt insbesondere dann keine Bindung an den vom Tatsachengericht festgestellten Erklärungsinhalt eines Verwaltungsaktes ein, wenn die Auslegung auf einer unvollständigen Würdigung der festgestellten Tatsachen, einem Rechtsirrtum, einem Verstoß gegen eine Auslegungsregel oder einem Verstoß gegen ein allgemeines Erfahrungs- oder Denkgesetz beruht. In diesem Fall kann das Revisionsgericht die Erklärung selbst auslegen (vgl nur BVerwG Urteil vom 30.10.2013 - 2 C 23/12 - BVerwGE 148, 217 RdNr 14 mwN). So verhält es sich hier. Das LSG hat insbesondere gegen die Auslegungsregel des § 133 BGB verstoßen, nach der der geäußerte Wille des Erklärenden maßgeblich ist, wie er sich ua aus dem Wortlaut der Erklärung ergibt (vgl nur BVerwG Urteil vom 30.10.2013 - 2 C 23/12 - BVerwGE 148, 217 RdNr 15) und hat darüber hinaus die von ihm selbst festgestellten Tatsachen nicht vollständig gewürdigt.

27

Die Auffassung des LSG, der Bescheid vom 13.7.1996 vermittle für jede ausgeübte Beschäftigung im Beruf der Projektleiterin eine Befreiung von der Versicherungspflicht, entspricht nicht dem von ihm selbst festgestellten Wortlaut des Bescheides, der an keiner Stelle eine Befreiung der Klägerin für die Funktion der Projektleiterin ausspricht. Nach den weiteren Feststellungen des Berufungsgerichts ist diese Tätigkeitsbezeichnung ebenso wenig im Antrag der Klägerin angegeben worden; dieser nimmt vielmehr Bezug auf das seinerzeitige Beschäftigungsverhältnis der Klägerin bei dem Staatlichen Bauamt in K. Nicht konsistent ist die Argumentation des LSG, wenn es ausführt, die Anfrage nach dem "derzeitigen" Beschäftigungsverhältnis im Antrag verdeutliche, dass die Befreiung auch für weitere Beschäftigungsverhältnisse Bedeutung haben würde. Die Verwendung des Begriffs "derzeitig" verdeutlicht angesichts seines allgemeinen Sinngehalts vielmehr genau das Gegenteil, dass es nur um die im Zeitpunkt der Antragstellung ausgeübte aktuelle Beschäftigung geht und auch nur gehen kann. Ob die Voraussetzungen für eine Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht vorliegen, kann der Rentenversicherungsträger nur anhand der konkreten Beschäftigung und ihrer Ausgestaltung prüfen. Dies räumt das LSG auch selbst ein, wenn es an anderer Stelle ausführt, die Abfrage des derzeitigen Beschäftigungsverhältnisses könne nur den Sinn gehabt haben festzustellen, ob überhaupt ein Beschäftigungsverhältnis vorliege, für das eine Befreiung erteilt werden könne. Soweit das LSG darauf hinweist, bei der Mitteilungspflicht sei der Arbeitgeberwechsel nicht genannt, woraus der objektive Empfänger auf die Unerheblichkeit dieses Umstands für die Befreiung schließen müsse, hat es bereits den von ihm selbst festgestellten weiteren Wortlaut außer Acht gelassen, in dem durch das Wort "insbesondere" gekennzeichnet ist, dass ausdrücklich nur Beispielsfälle genannt sind.

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2. Die Auslegung des (Formular-)Bescheides vom 13.7.1996 ergibt, dass die dort verfügte Befreiung der Klägerin von der Rentenversicherungspflicht sich nur auf deren Tätigkeit beim Staatlichen Bauamt in K. bezogen hat (dazu a) und daher mit der Aufgabe dieser Beschäftigung unwirksam geworden ist (dazu b).

29

Die Auslegung eines Verwaltungsaktes hat ausgehend von seinem Verfügungssatz und der Heranziehung des in § 133 BGB ausgedrückten allgemeinen Rechtsgedankens zu erfolgen, dass es nicht auf den Buchstaben, sondern den wirklichen Willen der Behörde bzw des Verwaltungsträgers ankommt, soweit er im Bescheid greifbar seinen Niederschlag gefunden hat. Für die Ermittlung des erklärten Willens sind dabei auch die Umstände und Gesichtspunkte heranzuziehen, die zur Aufhellung des Inhalts der Verfügung beitragen können und die den Beteiligten bekannt sind, wenn der Verwaltungsakt sich erkennbar auf sie bezieht. Maßstab der Auslegung ist insofern der verständige und Zusammenhänge berücksichtigende Beteiligte (Urteil des erkennenden Senats vom 22.3.2018 - B 5 RE 5/16 R - SozR 4-2600 § 6 Nr 16 RdNr 27 mwN).

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a) Unter Beachtung dieser Vorgaben ist der Bescheid vom 13.7.1996 dahin zu verstehen, dass er die Klägerin von der Rentenversicherungspflicht für die am 20.4.1993 bei dem Staatlichen Bauamt in K. aufgenommene Beschäftigung mit Wirkung zum 29.12.1995 befreit. Dagegen ist der Verwaltungsakt keinem Verständnis dahin zugänglich, dass die Befreiung unabhängig von dieser Beschäftigung weiter gilt und jedwede ausgeübte Beschäftigung als Bauingenieurin bzw Projektleiterin erfasst.

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Einen Verwaltungsakt und damit einen Verfügungssatz bzw eine Regelung enthält allein der Eingangssatz des Bescheides vom 13.7.1996 in Verbindung mit den ihm unmittelbar folgenden und ihn konkretisierenden (umrandeten) Ausführungen zum Beschäftigungsverhältnis und Beginn der Befreiung. Die weiteren Erklärungen insbesondere zur Dauer der Befreiung und zur Aufhebung der Befreiung sind hingegen lediglich erläuternde Hinweise zu der getroffenen Befreiungsentscheidung (stRspr; BSG Urteil vom 7.11.1991 - 12 RK 49/89 - SozR 3-2940 § 7 Nr 2 S 3 f; BSG Urteil vom 30.4.1997 - 12 RK 34/96 - BSGE 80, 215, 221 = SozR 3-2940 § 7 Nr 4 S 17; BSG Urteil vom 22.10.1998 - B 5/4 RA 80/97 R - BSGE 83, 74, 77 = SozR 3-2600 § 56 Nr 12 S 57; BSG Urteil vom 31.10.2012 - B 12 R 5/10 R - SozR 4-2600 § 231 Nr 5 RdNr 37; Urteil des 12. Senats vom 5.12.2017 - B 12 KR 11/15 R - Juris RdNr 24; Urteil des erkennenden Senats vom 22.3.2018 - B 5 RE 5/16 R - SozR 4-2600 § 6 Nr 16 RdNr 30). Dies ergibt sich sowohl aus der äußeren Gestaltung der Ausführungen als auch aus ihrem Inhalt. Durch die Umrandung der Verlautbarungen zu dem Eingangsdatum des Befreiungsantrags, dem Beginn des Beschäftigungsverhältnisses und dem Beginn der Befreiung werden diese von den nachfolgenden Erklärungen abgehoben und ihnen dadurch eine besondere Bedeutung beigemessen. Insbesondere aber sind allein sie individuell auf die Klägerin und damit auf den Einzelfall bezogen, während die übrigen Ausführungen insbesondere zur Dauer der Befreiung und zur Aufhebung allgemein gefasst sind und schon damit als bloße Hinweise ausgewiesen werden. Schon deswegen ist das LSG zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Bescheid vom 13.7.1996 die Befreiung der Klägerin von der Versicherungspflicht für die gesamte Dauer ihrer Mitgliedschaft in der berufsständischen Versorgungseinrichtung für jede ausgeübte Beschäftigung im Beruf der Projektleiterin regele.

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aa) Dass der Bescheid vom 13.7.1996 insoweit eine Regelung enthält, als er den Beginn der Befreiung der Klägerin von der Rentenversicherungspflicht auf den 29.12.1995 festsetzt, bedarf keiner Erläuterung. Die schon aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit notwendige Festlegung des Befreiungsbeginns iS von § 31 S 1 SGB X bestätigt, dass die umrandeten Ausführungen Bestandteile des Verfügungssatzes enthalten. Der weitere Regelungsgehalt, die Beschäftigungsbezogenheit der Befreiung ergibt sich insbesondere aus dem im Bescheid in Bezug genommenen Antrag der Klägerin vom 29.12.1995 (Eingangsdatum). In diesem hat die Klägerin in der Rubrik "Arbeitgeber (mit Anschrift) Staatliches Bauamt K., , " sowie als "Beginn des derzeitigen Beschäftigungsverhältnisses" den 20.4.1993 angegeben. Der damalige Befreiungsantrag betraf daher unzweifelhaft die seinerzeit ausgeübte Beschäftigung bei dem Staatlichen Bauamt in K.

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(1) Die Abfrage des Arbeitgebers und des Beginns des "derzeitigen" Beschäftigungsverhältnisses im Antragsformular unterstreicht, dass das Bestehen einer versicherungspflichtigen Beschäftigung notwendige Voraussetzung für die Befreiung von der Versicherungspflicht zur Beschäftigtenrentenversicherung ist. Ohne das Bestehen einer versicherungspflichtigen Beschäftigung kommt eine Befreiung von der gesetzlichen Beschäftigtenrentenversicherung schon aus Gründen der Logik nicht in Betracht. Dabei macht die Verwendung des Begriffs "derzeitig" deutlich, dass es um die aktuelle, im Zeitpunkt des Antrags bestehende Beschäftigung geht und auch nur um diese gehen kann. Ob die Voraussetzungen für die Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherung vorliegen, kann der Rentenversicherungsträger nur anhand einer konkreten Beschäftigung und deren Ausgestaltung prüfen. Nicht jede Beschäftigung eines Bauingenieurs oder Angehörigen eines sonstigen verkammerten Berufs muss gemessen an den jeweils einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen auch wirklich die Ausübung einer verkammerten Tätigkeit sein. Dies ist nicht der Fall, wenn der Betroffene - ungeachtet seiner Funktionsbezeichnung - eine berufsfremde Tätigkeit ausübt. Ebenso wenig kann eine Befreiung ausgesprochen werden, wenn der Antragsteller einer geringfügigen Beschäftigung nachgeht und daher versicherungsfrei ist (§ 5 Abs 2 S 1 Nr 1 SGB VI iVm § 8 Abs 1 Nr 2 oder § 8a iVm § 8 Abs 1 Nr 2 SGB IV). Abgesehen davon wird derjenige, der als Beschäftigter einen Antrag auf Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherung stellt, im Zeitpunkt der Antragstellung zumindest im Regelfall nicht wissen, ob er seine aktuelle Beschäftigung aufgeben und insbesondere in demselben Beruf eine Folgebeschäftigung aufnehmen wird. Auch aus diesem Grund kann sich ein Befreiungsantrag nur auf die gegenwärtige Beschäftigung beziehen (BSG SozR 4-2600 § 6 Nr 16 RdNr 32). Im Übrigen enthält der Antrag der Klägerin keine Formulierung, die der Auslegung zugänglich wäre, sie beantrage die Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherung für die Tätigkeit als Projektleiterin oder den Beruf der Bauingenieurin ohne Bezug auf eine bestimmte Beschäftigung.

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(2) Entgegen der Ansicht der Klägerin kann der Antrag vom 29.12.1995 (Eingangsdatum) zur Auslegung des Bescheides vom 13.7.1996 herangezogen werden. § 202 S 1 SGG iVm § 417 ZPO, nach dem die von einer Behörde ausgestellten, eine amtliche Anordnung, Verfügung oder Entscheidung - zB einen Verwaltungsakt (vgl zB Berger in Stein/Jonas, ZPO, Bd 5, 23. Aufl 2015, § 417 RdNr 1) - enthaltenen öffentlichen Urkunden vollen Beweis ihres Inhalts begründen (vgl dazu auch BSG Urteil vom 11.5.2011 - B 5 R 56/10 R - Juris RdNr 25; BVerwGE 66, 315, 320), steht dem nicht entgegen.

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§ 417 ZPO stellt eine Regel über die Beweiskraft auf. Die Auslegung einer Urkunde hat mit der Beweislast indes grundsätzlich nichts zu tun (so bereits RG JW 1915, 650; JW 1927, 514 - für die Auslegung einer Vertragsurkunde). Es ist insoweit zu unterscheiden zwischen der Feststellung der Tatsachen, die für die Auslegung wesentlich sein können, und der Auslegung selbst, die aufgrund des festgestellten Sachverhalts erfolgt. Während die Auslegung unabhängig von den Vorschriften über die Behauptungs- und Beweislast nach Maßgabe der §§ 133, 157 BGB vorzunehmen ist, richtet sich die Feststellung der für die Auslegung wesentlichen Tatsachen nach den für die Behauptungs- und Beweislast maßgeblichen Grundsätzen (BGHZ 20, 109, 111). Die Partei, die sich auf außerhalb der Urkunde liegende Umstände - etwa zum Zwecke der Deutung des Inhalts des Beurkundeten aus der Sicht des Erklärungsempfängers - beruft, trifft demzufolge die Beweislast für deren Vorliegen (BGH Urteil vom 5.7.2002 - V ZR 143/01 - Juris RdNr 7 mwN; BGH Urteil vom 10.6.2016 - V ZR 295/14 - Juris RdNr 6). Das Gericht kann danach im zivilgerichtlichen Verfahren eine umfassende Beurteilung aller für eine Auslegung maßgeblichen Umstände nur vornehmen, soweit solche außerhalb der Urkunde liegenden Umstände von der behauptungspflichtigen Partei vorgetragen und bewiesen werden (BGHZ 20, 109, 111 f).

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Dies bedeutet für das sozialgerichtliche Verfahren, in dem anders als im Zivilprozess der Untersuchungsgrundsatz (§ 103 SGG) gilt und die Beteiligten demzufolge keine Beweisführungslast haben (stRspr zB BSGE 6, 70, 73; 24, 25, 27 = SozR Nr 75 zu § 128 SGG; BSG Urteil vom 8.9.2010 - B 11 AL 4/09 R - Juris RdNr 17), dass das Gericht bei der Auslegung einer Urkunde von Amts wegen alle maßgeblichen Umstände berücksichtigen kann.

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Bei der Heranziehung des Antrags der Klägerin geht es nicht um den Beweis der Unrichtigkeit der durch § 417 ZPO geregelten formellen Beweiskraft einer Urkunde, die sich auf die Abgabe der behördlichen Erklärung, den in der Urkunde enthaltenen Text sowie die Angaben über die an der Erklärung teilnehmenden Personen sowie zum Ort und Zeitpunkt der Urkundenerrichtung bezieht (vgl Ahrens in Wieczorek/Schütze, ZPO Bd 6, 4. Aufl 2014, § 417 RdNr 6; Preuß in Prütting/Gehrlein, ZPO, 10. Aufl 2018, § 417 RdNr 5; Berger, aaO, § 417 RdNr 1 - alle mwN; vgl zur streitigen Frage der Zulässigkeit des "Gegenbeweises" ua Ahrens aaO § 417 RdNr 8; Preuß aaO § 417 RdNr 6; Berger aaO § 417 RdNr 4). Ebenso wenig geht es um den Nachweis der inhaltlichen Unrichtigkeit (innere oder materielle Beweiskraft <zum Begriff BGH Beschluss vom 16.1.2007 - VIII ZR 82/06 - Juris RdNr 17>) einer Urkunde mit rechtsmittelfähigem Inhalt und die dafür zulässige Form des Beweises (vgl hierzu Geimer in Zöller, ZPO, 32. Aufl 2018, § 417 RdNr 2). Vielmehr handelt es sich ausschließlich um